Neueste Geschichte: Konservatismus, Kolonialismus und NS-Zeit im Fokus
18.12.2024
Der Historiker Johannes Großmann erforscht an der LMU Neueste Geschichte und Zeitgeschichte. Er zeigt, wie bedeutend historische Fragen für die Gegenwart sind.
18.12.2024
Der Historiker Johannes Großmann erforscht an der LMU Neueste Geschichte und Zeitgeschichte. Er zeigt, wie bedeutend historische Fragen für die Gegenwart sind.
Professor Johannes Großmann befasst sich in seiner Forschung unter anderem mit konservativen Netzwerken in der Nachkriegszeit, der deutsch-französischen Geschichte zu Beginn des Krieges sowie der kolonialen Universitätsgeschichte und Wissensproduktion. Seit März dieses Jahres ist Johannes Großmann Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte am Historischen Seminar der LMU.
2022 wurde seine Habilitationsschrift Zwischen Fronten veröffentlicht, in der er die „erste Massenmigration des Zweiten Weltkriegs“ untersucht. Zu Beginn Krieges wurden aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet innerhalb weniger Tage Hunderttausende Menschen auf beiden Seiten in das jeweilige Landesinnere verbracht.
Ziel der Untersuchung war es, aufzuzeigen, wie Krieg nicht nur in Form von Kampfhandlungen oder Schlachten seine Wirkung entfaltet, sondern auch Gesellschaften und deren Zusammenleben im regionalen Bezug massiv beeinflusst. „Mich hat zudem interessiert, wie unterschiedliche Systeme – in diesem Fall eine Demokratie und eine Diktatur – solche Maßnahmen umsetzen“, erläutert der Historiker.
Das Thema der Evakuierungen von 1939/40 und ihrer regionalen und überregionalen Auswirkungen habe in der Geschichtswissenschaft bislang kaum Beachtung gefunden, sagt Großmann, was mit Blick auf die deutsche Situation auch der Quellenlage geschuldet sei. „Da es sich bei den Evakuierungen in Deutschland um geheime Maßnahmen handelte, wurde dazu entsprechend wenig kommuniziert – was in Frankreich als demokratischem Staat anders war“, so der Forscher. „Dort wurden über die Maßnahmen weitgehend offen informiert.“
Bei seiner Arbeit haben ihm im Hinblick auf Deutschland vor allem kirchliche Quellen sehr geholfen. Denn mit den Menschen sind auch zahlreiche Geistliche evakuiert worden, die regelmäßig ihren Bischöfen berichteten. „Die Dokumente eröffnen einen hervorragenden Einblick in das Alltagsleben“, sagt Großmann. So habe bei den Betroffenen der Begriff der „Heimat“ als mentale Konstruktion eine enorme Bedeutung gehabt – ebenso wie die Sorgen, die damit verbunden sind: Was passiert mit unseren Häusern und Höfen? Was geschieht mit dem Vieh? Wird geplündert?
In Frankreich habe es, so Großmann, mit den Evakuierungen besser geklappt, zumal es bei den Maßnahmen mehr Vorlauf gegeben habe und auf die Bedürfnisse der Betroffenen stärker Rücksicht genommen wurde. Allerdings konnte sich im demokratischen Frankreich auch Unmut über die Maßnahmen eher Gehör verschaffen, und es kam zu sehr intensiven Diskussionen. „In Deutschland wurde das von der Propaganda überspielt“, sagt Großmann.
Obwohl in der Historiographie bislang eine Randerscheinung, handelte es sich bei den Evakuierungen um die erste große Massenmigration des Weltkrieges. „Große Städte wie Straßburg oder Saarbrücken waren praktisch entvölkert“, sagt Großmann. Im damaligen Umgang der Politik und der Betroffenen mit den Evakuierungen lassen sich viele Muster erkennen, die auch den gegenwärtigen Umgang mit Migration und Flucht prägen.
Große Städte wie Straßburg oder Saarbrücken waren praktisch entvölkertProf. Dr. Johannes Großmann
Johannes Großmann studierte Geschichte an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Er war Juniorprofessor und Lehrstuhlvertreter an der Universität Tübingen, Lehrstuhlvertreter an der HU Berlin und Gastprofessor an der Universität Heidelberg; Gastaufenthalte führten ihn unter anderem an die Pariser Sorbonne und die ENS Paris.
Im Rahmen seiner Dissertationan der Universität Tübingen untersuchte Großmann konservative Netzwerke in Europa mit Fokus auf die unmittelbare Nachkriegszeit bis in die 1980er- und 1990er-Jahre. Gleichsam als eine Art Gegenentwurf zur Sozialistischen Internationale agierten diese Netzwerke informell und weitgehend im Geheimen, um Einfluss auf politische und wirtschaftliche Entscheidungen ihrer Zeit zu nehmen.
„Zu den Mitgliedern gehörten Personen aus dem Franco-Regime in Spanien genauso wie konservative Intellektuelle aus England und Skandinavien oder Christdemokraten aus Deutschland“, so der Forscher über die Zusammensetzung dieser Zirkel, die unter anderem im sogenannten „Europäischen Informations- und Dokumentationszentrum“ eine institutionelle Basis hatten.
Zunächst als organisationsgeschichtliche Arbeit geplant, konnte Johannes Großmann im Verlauf seiner Untersuchung aufzeigen, wie diese Netzwerke ab den 1950er-Jahren als Katalysatoren für den Wandel konservativer Ideologien wirkten, etwa durch die Integration marktwirtschaftlicher Ideen in traditionell skeptische und konservative Wirtschaftsauffassungen.
Besonders interessierte ihn in diesem Kontext die Rolle Otto von Habsburgs, des designierten Thronfolgers und Sohnes des letzten österreichischen Kaisers Karl I. „Otto von Habsburg hat sich im Exil in den USA langsam liberalen und demokratischen Ideen zugewandt, wenngleich er der eigenen Überzeugung nach immer Konservativer geblieben ist“, so Großmann. "Neben der partiellen Liberalisierung konservativen Denkens lässt sich jedoch auch eine anhaltende Faszination für antiliberale und radikale Ideen beobachten, die diese Geschichte zu einer Vorgeschichte unserer Gegenwart werden lässt."
Zu den Mitgliedern der Netzwerke gehörten Personen aus dem Franco-Regime in Spanien genauso wie konservative Intellektuelle aus England und Skandinavien oder Christdemokraten aus DeutschlandProf. Dr. Johannes Großmann
Während seiner Tätigkeit an der Universität in Tübingen, wo er auch seine Habilitationsschrift zu den Evakuierungen anfertigte, war Großmann zudem an einer Arbeitsgruppe zur kolonialen Vergangenheit der Universität beteiligt. „Wir haben uns mit der Rolle von Universitäten und ihrer Sammlungen im Kontext des Kolonialismus auseinandergesetzt“, erzählt er. Ein wichtiger Aspekt für ihn war hier insbesondere die Provenienzforschung – vor allem im Hinblick auf die paläontologische Sammlung der Universität.
Auch in München wird ihn der Kolonialgeschichte weiter beschäftigen, vor allem auch in der Lehre. Denn er legt besonderen Wert darauf, seine Studierenden aktiv in Forschungsprozesse einzubinden und ihnen die Bedeutung historischer Fragestellungen für die Gegenwart zu vermitteln. Deswegen hat er zusammen mit dem Universitätsarchiv ein studentisches Projekt initiiert, bei dem die Studierenden entsprechende Archivalien zur Kolonialgeschichte suchen und auswerten sollen. „Auf dieser Basis wollen wir zeigen, wie mit Kolonialismus nicht nur im Kontext der Universität umgegangen wurde. Ziel ist es zudem, zu beleuchten, ob und wie dieser Umgang auch im Hinblick auf die städtische und regionale Öffentlichkeit aufscheint“, erläutert Großmann.
Dabei, betont er, stoße man immer wieder auf rassistische Konstruktionen und Zuschreibungen, die über die formelle Existenz eines deutschen Kolonialreichs hinaus auch in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus für wissenschaftliche Forschung und Personalentscheidungen einflussreich geblieben seien. Bis heute sei das schwierige Erbe des Kolonialismus nicht vollständig überwunden.
Ein weiteres Projekt mit Masterstudierenden befasst sich mit dem Kalten Krieg in München. „Der Kalte Krieg wird häufig im Zusammenhang mit Städten wie Berlin gesehen – gleichsam als Zentrum des Geschehens.“ In München, sagt er, gab es mit Radio Free Europe zwar ein wichtiges Medium dieser Zeit. Im „Masternarrativ“ des Kalten Krieges habe die bayerische Metropole aber immer im Schatten der „Frontstadt“ Berlin gestanden. „Es gibt in der Forschung fast nichts zur Lokalgeschichte des Kalten Krieges in München.“ Diese Lücke zu schließen, soll das Ziel des Projekts sein.
Auch die spezifische Geschichte der Stadt München und der LMU im Nationalsozialismus wird ein wichtiger Schwerpunkt seiner Arbeit sein. Er hat vor, die vorhandenen Strukturen intensiv zu nutzen und plant die Zusammenarbeit unter anderem mit dem Institut für Zeitgeschichte oder dem NS-Dokumentationszentrum. Auf der Agenda stehen dabei Untersuchungen zu Opfern des Nationalsozialismus, zum Widerstand und vor allem zur Rolle Münchens als sogenannte „Hauptstadt der Bewegung“.